Reform zur nachhaltigen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung 19. Juni 2007 Die Pflegeversicherung bleibt ein zentraler Baustein der sozialen Sicherungssysteme. Die solidarische Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit mit dem Leitbild einer menschlichen Pflege wird auch in Zukunft gewährleistet sein. Die Pflegeversicherung muss jedoch – wie auch die anderen sozialen Sicherungssysteme – den Herausforderungen der Zukunft gerecht werden. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind seit 1995 in der Höhe unverändert. Sie unterliegen daher einem schleichenden Wertverfall und müssen angepasst werden. Die Reform der Pflegeversicherung soll den Grundsatz "ambulant vor stationär" stärken, die Rehabilitations- und Präventionsanstrengungen der Pflegebedürftigen unterstützen sowie die Leistungen individuell auf die Bedarfe der Menschen ausrichten. Der besondere Hilfe- und Betreuungsbedarf der Demenzkranken soll künftig besser berücksichtigt werden. 1. Stärkung der ambulanten Versorgung nach persönlichem Bedarf ¾ Integrierte wohnortnahe Versorgung und Pflegestützpunkte Mit dem Ziel, wohnortnah die Angebote für Pflegebedürftige besser aufeinander abzustimmen und zu vernetzen sowie aus einer Hand anzubieten, werden quartiersbezogene Pflegestützpunkte unter Berücksichtigung vorhandener Strukturen gebildet. Diese werden mit einem neuen Vertragstyp "Integrierte wohnortnahe Versorgung und Betreuung" realisiert, der zwischen Krankenkassen, Pflegekassen, Kommunen und Leistungserbringern geschlossen werden kann. Es wird eine Anschubunterstützung für die Pflegestützpunkte von der Pflegeversicherung für 2 Jahre gewährt. Bei einer Förderung von durchschnittlich einem Stützpunkt je 20.000 Einwohner mit 15.000 € würden Kosten von rd. 60 Mio. € entstehen. ¾ Fallmanagement Die Pflegekassen werden verpflichtet, für ihre pflegebedürftigen Versicherten ein Fallmanagement (etwa im Rahmen der Pflegestützpunkte) anzubieten, welches die zielgerichtete Unterstützung des Einzelnen gewährleistet und für eine Anpassung des Versorgungsarrangements an veränderte Bedarfe sorgt. Ein(e) Fallmanager(in) soll künftig Ansprechpartner(in) für jeweils bis zu 100 pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen sein. (Kommentar - Textfeld Anlage zum DLT-RS 293/2007) - 2 - - 2 - Mehrausgaben der SPV im jeweiligen Jahr Jahr 2008 2009 2010 2011 2012 2020 2030 Mrd. € 0,06 0,11 0,17 0,23 0,29 0,40 0,59 BSP* 0,01 % 0,01 % 0,02% 0,02 % 0,03 % 0,03 % 0,03 % * in Beitragssatzpunkten ¾ Förderung betreuter Wohnformen/Wohngemeinschaften Pflegebedürftige in ambulant betreuten Wohneinrichtungen sollen die dort erbrachten Betreuungsleistungen flexibler als bisher in Anspruch nehmen und diese Leistungen allein oder mit anderen Pflegebedürftigen gemeinsam abrufen ("poolen") können. ¾ Einzelpflegekräfte Pflegekassen sollen leichter Verträge mit Einzelpflegekräften unterschiedlicher Qualifikation schließen können. Damit kann ambulante Pflege künftig individueller und bedarfsgerechter – persönlicher – erbracht werden. Die Pflegekassen haben nicht nur für die notwendige Qualität sondern auch dafür zu sorgen, dass die Zahl der Einzelpflegekräfte in einem angemessenen Verhältnis zu dem vorhandenen Leistungsangebot steht. ¾ Qualifizierung und Abbau von Schwarzarbeit Versorgung und Betreuung pflegebedürftiger Menschen müssen bezahlbar sein und dürfen keinen Anreiz für Schwarzarbeit bieten. Der im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik diskutierte Vorschlag, sozialversicherungspflichtige Tätigkeit im Haushalt als Auftraggeber bis zu einer bestimmten Lohnhöhe durch Steuergutschriften bis zur Höhe der jeweiligen Sozialversicherungsbeiträge staatlich zu fördern, dürfte auch im Bereich der Betreuung pflegebedürftiger Menschen viele neue legale Beschäftigungschancen eröffnen. Dazu müssen passgenaue Qualifizierungsmaßnahmen angeboten werden. 2. Ausgestaltung der finanziellen Leistungen • Die ambulanten Sachleistungsbeträge werden bis 2012 stufenweise wie folgt angehoben: Pflegestufe bisher € 2008 2010 2012 Stufe I 384 420 450 450 Stufe II 921 980 1.040 1.100 Stufe III1 1.432 1.470 1.510 1.550 1 Die Stufe III für Härtefälle im ambulanten Bereich in Höhe von 1.918 €/monatlich bleibt unberührt. - 3 - - 3 - • Das Pflegegeld wird bis 2012 wie folgt angehoben: Pflegestufe bisher € 2008 2010 2012 Stufe I 205 215 225 235 Stufe II 410 420 430 440 Stufe III 665 675 685 700 • Die stationären Sachleistungsbeträge der Stufen I und II bleiben zunächst unverändert. Die Stufe III und Stufe III in Härtefällen werden bis 2012 stufenweise wie folgt verändert: Pflegestufe bisher € 2008 2010 2012 Stufe III 1.432 1.470 1.510 1.550 Stufe III Härtefall 1.688 1.750 1.825 1.918 Finanzielle Auswirkungen der veränderten Leistungsbeträge Mehrausgaben im jeweiligen Jahr: Jahr 2008 2009 2010 2011 2012 2020 2030 Mrd. € 0,42 0,42 0,81 0,83 1,25 1,48 1,77 BSP * 0,04 % 0,04 % 0,08 % 0,08 % 0,11 % 0,11 % 0,10 % * in Beitragssatzpunkten • Der zusätzliche Leistungsbetrag für Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz wird auf bis zu 2400 € jährlich angehoben. Menschen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz, die zwar noch keinen erheblichen Pflegebedarf, wohl aber Betreuungsbedarf haben, können diesen Betrag auch erhalten. Der zusätzliche Leistungsbetrag wird in unterschiedlicher Höhe (2 Stufen) entsprechend des festgestellten Betreuungsaufwands geleistet. In der Regel korreliert der Betreuungsaufwand von Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz mit den Pflegestufen, da mit der Schwere der demenziellen Erkrankung neben dem Beaufsichtigungsbedarf auch der verrichtungsbezogene Hilfebedarf ansteigt. Mehrausgaben im jeweiligen Jahr: Jahr 2008 2009 2010 2011 2012 2020 2030 Mrd. € 0,27 0,36 0,44 0,53 0,56 0,58 0,64 BSP* 0,03 % 0,03 % 0,04 % 0,05 % 0,05 % 0,04% 0,04 % * in Beitragssatzpunkten - 4 - - 4 - • Der Anspruch auf Tagespflege wird ausgebaut. Neben dem Anspruch auf Tagespflege soll noch ein hälftiger Anspruch auf die jeweilige ambulante Pflegesachleistung oder das Pflege- geld für die weiterhin zu Hause notwendige Pflege geleistet werden. Mehrausgaben im jeweiligen Jahr: Jahr 2008 2009 2010 2011 2012 2020 2030 Mrd. € 0,08 0,09 0,10 0,12 0,12 0,13 0,14 BSP* 0,01 % 0,01 % 0,01 % 0,01 % 0,01 % 0,01 % 0,01 % * in Beitragssatzpunkten • Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen künftig in einem dreijährigen Rhythmus dynamisiert werden. Da die bisherigen Leistungsbeträge ab 2008 stufenweise angehoben werden, beginnt die entsprechende Dynamisierung erstmals 2015, drei Jahre nach Abschluss der Anhebung der Sachleistungsbeträge. Ob und inwieweit eine Dynamisierung entsprechend der Preissteigerungsrate in der Folgezeit geboten ist, wird danach alle 3 Jahre geprüft. Die Höhe der Anpassung wird von der Bundesregierung gegebenenfalls per Rechtsverordnung in Anlehnung an die Inflationsentwicklung in den letzten 3 Jahren festgelegt. Dabei soll der Anstieg nicht höher sein als die Bruttolohnentwicklung im selben Zeitraum. Mehrausgaben im jeweiligen Jahr (bei 1,5 % Inflationsrate): Jahr 2015 2016 2017 2018 2020 2030 Mrd. € 1,01 1,04 1,07 2,23 2,35 9,24 BSP * 0,08 % 0,08 % 0,08 % 0,17 % 0,17 % 0,50 % * in Beitragssatzpunkten • Die Förderung von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten und Modellvorhaben wird um 5 Mio. € im Jahr auf 15 Mio. € angehoben, so dass mit der Kofinanzierung der Länder und Kommunen 30 Mio. € pro Jahr zur Verfügung stehen werden. 3. Einführung einer Pflegezeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Bei Pflege durch Angehörige wird für die Dauer von 6 Monaten ein Anspruch auf unbezahlte Freistellung von der Arbeit mit Rückkehrmöglichkeit (Pflegezeit) eingeführt. Betriebe mit bis zu zehn Mitarbeitern werden ausgenommen. Die Pflegezeit kann von verschiedenen Angehörigen nacheinander wahrgenommen werden. - 5 - - 5 - Die notwendige soziale Absicherung in der Rentenversicherung ist nach geltendem Recht gewährleistet. Wo keine anderweitige Absicherung (insbesondere Familienmitversicherung) besteht, gewährt die Pflegeversicherung einen Beitragszuschuss in Höhe des Mindestbeitrages zur Kranken- und Pflegeversicherung. Hinsichtlich der Rahmenfristen, Wartezeiten etc. in der Arbeitslosenversicherung gilt für die Pflegezeit die gleiche Rechtslage wie bei der Inanspruchnahme von Elternzeit. Die Einführung der Pflegezeit ist für die Pflegeversicherung in etwa kostenneutral. Da Pflegebedürftigkeit auch sehr kurzfristig auftreten kann, sollte für diese Fälle für Angehörige ebenfalls ein kurzfristiger Freistellungsanspruch von der Arbeit (unbezahlt) von bis zu 10 Tagen geschaffen werden. Es wird geprüft, für diese Fälle nach dem Muster des kurzzeitigen Krankengeldanspruches (für max. 10 Tage) für Eltern bei Erkrankung von Kindern eine vergleichbare Finanzierung zu schaffen. 4. Bessere Ausgestaltung der Prävention und Reha in der Pflege Mit finanziellen Anreizen sollen Anstrengungen von stationären Pflegeeinrichtungen gefördert werden, mit aktivierender Pflege und Rehabilitation qualitativ gute Pflege zu bieten und - soweit möglich - Verbesserungen im Gesundheitszustand der Pflegebedürftigen zu erzielen bzw. Verschlechterungen zu vermeiden. Pflegeheime, denen es durch verstärkte aktivierende und rehabilitative Bemühungen gelingt, Pflegebedürftige in eine niedrigere Pflegestufe einzustufen, erhalten einen einmaligen Geldbetrag in Höhe von einheitlich 1.536 €. Der Betrag entspricht der Differenz zwischen den Leistungsbeträgen der Pflegestufe II und der Pflegestufe I, der sich innerhalb eines halben Jahres ergibt. Die Krankenversicherung erstattet der Pflegeversicherung den Betrag in Höhe von 1.536 € für diejenigen pflegebedürftigen Menschen, für die innerhalb von 6 Monaten nach Begutachtung und Antragstellung keine notwendigen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erbracht worden sind. 5. Ausbau der Qualitätssicherung Die Qualitätssicherung im ambulanten und stationären Bereich soll weiter ausgebaut werden. Eigene Anstrengungen der Träger im Qualitätsmanagement für eine bessere Pflege sollen im Rahmen der Regelprüfung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) berücksichtigt werden. Die Prüfberichte des MDK werden in verständlicher Sprache aufbereitet - 6 - - 6 - und veröffentlicht. Damit wird Transparenz hinsichtlich der qualitativen Leistungsfähigkeit der Einrichtungen für den Bürger geschaffen. 6. Unterstützung des generationsübergreifenden bürgerschaftlichen Engagements • Die Pflegekassen werden verpflichtet, gemeinsam mit den Ländern und den übrigen Vertragspartnern darauf hinzuwirken, dass bürgerschaftlich Engagierte noch besser in vernetzte Versorgungsangebote auf kommunaler Ebene wie z.B. in Betreuungsgruppen für Demenzkranke, Helferkreise und Agenturen zur Vermittlung von Betreuungsleistungen eingebunden werden. • Aufwendungen, die z.B. für die vorbereitende und begleitende Schulung der bürgerschaftlich engagierten Helfer oder für die Organisation und Planung dieser Einsätze entstehen, können in den Vergütungsverträgen angemessen berücksichtigt werden. 7. Abbau von Schnittstellenproblemen Schon mit der Gesundheitsreform wurden mehrere wichtige Schnittstellenprobleme gelöst (z.B. Erweiterung der Integrierten Versorgung, Erweiterung des Begriffs der Häuslichkeit, Präzisierung des Hilfsmittelanspruchs). Weiterer Bedarf besteht in folgenden Bereichen: Die Pflegekassen sollen darauf hinwirken, dass stationäre Pflegeeinrichtungen Kooperationen mit niedergelassenen Ärzten eingehen oder eigene Heimärzte einstellen. Die Schnittstellenprobleme zwischen dem SGB XI und dem Heimrecht sollen gelöst werden. Die Krankenhäuser haben in ihrem Versorgungsmanagement den nahtlosen Übergang von der Krankenhausbehandlung in die ambulante Versorgung, zur Rehabilitation oder Pflege zu gewährleisten. Die Durchführung erfolgt durch hierfür qualifiziertes Personal, insbesondere Pflegefachkräfte. Die Pflegekassen wirken daran mit. 8. Förderung der Wirtschaftlichkeit und Entbürokratisierung Durch verschiedene Maßnahmen sollen die Wirtschaftlichkeit der Pflegeversicherung im Interesse der Pflegebedürftigen verbessert und die Pflegekräfte sowie die Einrichtungen von unnötiger Bürokratie entlastet werden. Für den Bereich der Pflegeheime werden flexible Personalschlüssel eingeführt. Sie sind nach den Notwendigkeiten der Qualität, des Bedarfs der Pflegeheimbewohner und der Wirtschaftlichkeit von den Pflegesatzparteien zu vereinbaren. - 7 - - 7 - 9. Stärkung der Eigenvorsorge und Anpassungsbedarf in der privaten Pflege- Pflichtversicherung Die Pflegekassen erhalten wie im Bereich der GKV die Möglichkeit, private Pflege-Zusatzversicherungen zu vermitteln. Die Portabilität der individuellen Altersrückstellungen und soziale Regelungen zur Tragung der Beiträge bei niedrigen Einkommen analog zum Basistarif in der PKV werden auch für den Bereich der privaten Pflege-Pflichtversicherung eingeführt. 10. Finanzierung Anhebung des allgemeinen Beitragssatzes um 0,25 % ab 1. Juli 2008 Zur Abdeckung der bestehenden leichten Unterdeckung der laufenden Ausgaben in der Pflegeversicherung und zur Finanzierung der vorgeschlagenen Verbesserungen der Leistungen wird der Beitragssatz ab 1. Juli 2008 auf 1,95 % erhöht. Aus heutiger Sicht reicht dieser Beitrag aus, die Leistungen der Pflegeversicherung bis etwa 2014 / 2015 zu finanzieren, ohne dass die Mindestreserve von einer Monatsausgabe in Anspruch genommen werden muss.